MOTIVATION

BRITTA BUCHHOLZ:

Wenn man als deutscher Journalist nach Chile reist, gibt es dort nur zwei relevante „deutsche“ Themen: Margot Honecker und die Colonia Dignidad. Mich erwischte eins von beiden mit voller Wucht: die Colonia Dignidad. Denn ausgerechnet während meines Südamerika-Urlaubs wurde Paul Schäfer nach achtjähriger Flucht in Argentinien festgenommen. Bis dahin war kein deutscher Journalist auf das Gelände der Colonia Dignidad gekommen – ich fuhr dennoch hin.

Vor dem Tor der berüchtigten Sekte warteten schon die Übertragungswagen des chilenischen Fernsehens. Ich meldete mich am „Empfang“ an, wo mich eine ältere Frau widerwillig einließ. Es begrüßte mich ein Komitee von vier Männern. Das Gespräch mit ihnen verlief ganz anders als erwartet. Sie begegneten mir sehr schüchtern, wirkten weltfremd. Als ich mit einem von ihnen allein redete, erzählte mir der 44jährige von seinem jahrelangen Missbrauch durch Paul Schäfer. Darüber habe er sonst mit noch niemandem geredet. Seine Kindheit voller Prügel und Arbeit, er lebte getrennt von Eltern und Geschwistern.

Mir wurde klar: Das Bild der grausamen Sekte Colonia Dignidad hat weitaus mehr Facetten als bekannt. Bisher gab es vor allem Erzählungen aus der „Außenperspektive“, aber nach Innen hatte noch niemand gesehen. Und viele der einstigen Bewohner, als Täter stigmatisiert, waren -auch­- Opfer.

Ich schrieb eine Seite 3 für den Tagesspiegel und machte mich dann für DIE ZEIT wieder auf den Weg und schrieb die Geschichte „Es bleibt in der Familie“ über die Familie Schnellenkamp - der Vater einst rechte Hand von Schäfer, seine Kinder hineingeboren in die Sekte. Ich porträtierte die Eltern und fünf von sieben Geschwistern.

Am Ende blieben nach vielen Gesprächen vor allem viele Fragen. Es war nicht einfach, ihre Vergangenheit zu begreifen – und umso schwerer ihre Gegenwart. Ich sprach mit Matthias Zuber und es entstand das Drehbuch zum Film „Deutsche Seelen“. Im Rahmen der Recherche flogen wir zweimal gemeinsam nach Chile. Die Annäherung an die ehemaligen Sektenmitglieder war sehr schwierig. Jahrzehntelang ließen sie keine Fremden auf das Gelände, verließen es selbst nicht. Jetzt uns dort zu empfangen, mit uns zu sprechen, war ein riesiger Schritt für sie.

Dann folgten die Dreharbeiten. Wir schliefen auf dem Gelände der Colonia Dignidad, heute Villa Baviera genannt. So kamen wir den Bewohnern sehr nah – doch diese Nähe wurde für beide Seiten teilweise schier unerträglich. Wir wurden beobachtet, gemieden, bedrängt. Wir wurden mal mit Freundlichkeit überschüttet und mal äußerst abweisend behandelt. Eine „normale“ Arbeit war nicht möglich, wir tasteten uns langsam voran. Wie traumatisiert viele von ihnen waren, zeigte sich dort für uns jeden Tag.

Ich persönlich lebte insgesamt gut zwei Jahre sehr intensiv mit der Colonia Dignidad. Manchmal ein Wechselbad der Gefühle, ich schwankte zwischen Verständnis, Mitleid und auch Abscheu. Die Schicksale ließen sich nicht ad acta legen. Noch heute habe ich Kontakt zu einigen der einstigen Sektenmitglieder. Es war eine extreme Zeit, bei den deutschen Seelen in Chile.